Förderverein Ernst-Barlach-Museum
„Altes Vaterhaus“ in Ratzeburg e.V.

- Presseresonanz 2012 -


 

8. Dezember 2012


Ratzeburg – Günter Grass las aus seinem umstrittenen Band „Eintagsfliegen“ in St. Petri in Ratzeburg.

Niemand kann behaupten, Günter Grass kümmere sich nicht um seine Nachbarschaft. Der Literaturnobelpreisträger hatte sich in letzter Zeit rar gemacht, zumindest, was seine körperliche Präsenz betraf. Mit seiner Gesundheit stand es rund um seinen 85. Geburtstag im Oktober nicht zum Besten. Doch die Lesung in Ratzeburg, die wollte der prominente Alte aus dem benachbarten Behlendorf unbedingt abhalten. Immerhin hat er das Lauenburgische als zweite Heimat adoptiert: „Das Dorf ist weit genug weg. / Kein Gasthof ist ihm geblieben, / weder Bäcker noch Schlachter“, heißt es im Gedicht „Wo ich hause“. Aber auch: „Hier ist gut Kommen und Gehen.“

St. Petri war so gut besetzt, wie es Pfarrer Felix Evers wohl gerne auch in seiner St. Answer-Kirche bei seinen Predigten hätte. Gebeugt bewegt sich Grass durchs Kirchenschiff, doch wenn er ans Pult tritt, einen Schluck vom bereitgestellten Rotwein nimmt und anhebt zum Vortrag, dann strafft sich die Figur, wächst und verjüngt sich schlagartig. Grass will es seinem Publikum nicht behaglich machen. Er liest zuerst aus seinen November-Sonetten von 1993, die diesen Herbstmonat als Schicksalszeit der Deutschen markieren: „Angst geht um, November droht zu bleiben. / Nie wieder langer Tage Heiterkeit. / Die letzten Fliegen fallen von den Scheiben, / und Stillstand folgt dem Schnellimbiss der Zeit.“ Darin kommt auch unangenehm Benachbartes vor – der Brandanschlag in Mölln, Abschottung gegen Flüchtlinge, das Auftrumpfen von Skinheads mit Scheitel und Schlips. Schweigen im Kirchenraum.

Seinen neuesten Band „Eintagsfliegen“, in dem einige der Gedichte versammelt sind, die dem Autor neben Kritik auch ein Einreiseverbot nach Israel einbrachten, nimmt Grass anschließend zur Hand. Mit den zum Teil persönlichen, in freiem Versmaß verfassten Texte gewinnt der Dichter die Zuhörer. Das anerkennt mit erst schüchternem, dann aber entschlossenem Beifall, dass Grass immer noch ein brillanter Vorleser seiner Werke ist. Mit kleinen Gesten und gehobener Stimme macht er sie lebendig. Auch die titelgebende „Eintagsfliege“ beginnt zu schweben: „Seit zweihundert Millionen Jahren, / als von Adam und Eva nicht mal / Gerüchte in Umlauf waren, / ist sie verbreitet ...“ Ob Lübecker Stillleben mit Minarett neben St. Marien und Thomas Mann samt Migrantenfrauen, ob Klagen über die Beschwernisse des Alters oder kecke Liebeserklärungen an seine Frau – Politisches schaut aus allen Texten heraus. Und wenn er seinen Furor über neue Medien von der Kette lässt („Im Internet habe ich nichts zu suchen“), dann ist da einer, der dem überwiegend reiferen Publikum aus der Seele spricht.

Das problematische israelkritische Gedicht „Was gesagt werden muss“ trägt Grass in Ratzeburg nicht vor. „Das war auch nicht nötig“, sagte anschließend Pfarrer Evers etwas erleichtert. Reibungsflächen bot der Dichter genug. Zum Beispiel wenn es um seine kritische Zuneigung zu Deutschland geht: „Meiner Liebe gewisses Land / dem ich verhaftet bin /notfalls als Splitter im Auge.“

Es waren auch Gymnasiasten da an diesem Abend. Als sich die Jungs draußen vor der Kirche wieder die Stöpsel ihrer iPods ins Ohr steckten, zollten einige dem Dichter das größte Lob, das ihnen zur Verfügung steht: „Cooler Alter.“

Von Michael Berger
Lübecker Nachrichten