Ratzeburg – Günter Grass las aus seinem umstrittenen Band
„Eintagsfliegen“ in St. Petri in Ratzeburg.
Niemand kann behaupten,
Günter Grass kümmere sich nicht um seine Nachbarschaft. Der
Literaturnobelpreisträger hatte sich in letzter Zeit rar
gemacht, zumindest, was seine körperliche Präsenz betraf.
Mit seiner Gesundheit stand es rund um seinen 85. Geburtstag
im Oktober nicht zum Besten. Doch die Lesung in Ratzeburg,
die wollte der prominente Alte aus dem benachbarten
Behlendorf unbedingt abhalten. Immerhin hat er das
Lauenburgische als zweite Heimat adoptiert: „Das Dorf ist
weit genug weg. / Kein Gasthof ist ihm geblieben, / weder
Bäcker noch Schlachter“, heißt es im Gedicht „Wo ich hause“.
Aber auch: „Hier ist gut Kommen und Gehen.“
St. Petri war so gut besetzt, wie es Pfarrer Felix Evers
wohl gerne auch in seiner St. Answer-Kirche bei seinen
Predigten hätte. Gebeugt bewegt sich Grass durchs
Kirchenschiff, doch wenn er ans Pult tritt, einen Schluck
vom bereitgestellten Rotwein nimmt und anhebt zum Vortrag,
dann strafft sich die Figur, wächst und verjüngt sich
schlagartig. Grass will es seinem Publikum nicht behaglich
machen. Er liest zuerst aus seinen November-Sonetten von
1993, die diesen Herbstmonat als Schicksalszeit der
Deutschen markieren: „Angst geht um, November droht zu
bleiben. / Nie wieder langer Tage Heiterkeit. / Die letzten
Fliegen fallen von den Scheiben, / und Stillstand folgt dem
Schnellimbiss der Zeit.“ Darin kommt auch unangenehm
Benachbartes vor – der Brandanschlag in Mölln, Abschottung
gegen Flüchtlinge, das Auftrumpfen von Skinheads mit
Scheitel und Schlips. Schweigen im Kirchenraum.
Seinen neuesten Band „Eintagsfliegen“, in dem einige der
Gedichte versammelt sind, die dem Autor neben Kritik auch
ein Einreiseverbot nach Israel einbrachten, nimmt Grass
anschließend zur Hand. Mit den zum Teil persönlichen, in
freiem Versmaß verfassten Texte gewinnt der Dichter die
Zuhörer. Das anerkennt mit erst schüchternem, dann aber
entschlossenem Beifall, dass Grass immer noch ein brillanter
Vorleser seiner Werke ist. Mit kleinen Gesten und gehobener
Stimme macht er sie lebendig. Auch die titelgebende
„Eintagsfliege“ beginnt zu schweben: „Seit zweihundert
Millionen Jahren, / als von Adam und Eva nicht mal /
Gerüchte in Umlauf waren, / ist sie verbreitet ...“ Ob
Lübecker Stillleben mit Minarett neben St. Marien und Thomas
Mann samt Migrantenfrauen, ob Klagen über die Beschwernisse
des Alters oder kecke Liebeserklärungen an seine Frau –
Politisches schaut aus allen Texten heraus. Und wenn er
seinen Furor über neue Medien von der Kette lässt („Im
Internet habe ich nichts zu suchen“), dann ist da einer, der
dem überwiegend reiferen Publikum aus der Seele spricht.
Das problematische israelkritische Gedicht „Was gesagt
werden muss“ trägt Grass in Ratzeburg nicht vor. „Das war
auch nicht nötig“, sagte anschließend Pfarrer Evers etwas
erleichtert. Reibungsflächen bot der Dichter genug. Zum
Beispiel wenn es um seine kritische Zuneigung zu Deutschland
geht: „Meiner Liebe gewisses Land / dem ich verhaftet bin
/notfalls als Splitter im Auge.“
Es waren auch Gymnasiasten da an diesem Abend. Als sich die
Jungs draußen vor der Kirche wieder die Stöpsel ihrer iPods
ins Ohr steckten, zollten einige dem Dichter das größte Lob,
das ihnen zur Verfügung steht: „Cooler Alter.“
Von Michael Berger
Lübecker Nachrichten
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