Barlach und Ratzeburg
(Die Fotos lassen sich
durch Mausklick vergrößern.)
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Ein Museum "Altes
Vaterhaus" zu nennen, obwohl es nicht Ernst Barlachs
Geburtshaus ist und er nicht einmal ein Zehntel seiner
68 Lebensjahre dort verbracht hat, ist erklärungsbedürftig.
Ein Primärtext des Künstlers gibt hierüber aber
deutlichen Aufschluß.
In seiner 1928 bei Paul Cassirer edierten
Autobiographie "Ein Selbsterzählten Leben" werden
Wesenszüge des großzügigen Anwesens
in Ratzeburg beschrieben, die im Folgenden in Wort und
Bild dargestellt werden sollen. |
Barlach schreibt seine
Lebenserinnerungen in den 1920er Jahren, also in der Rückschau. In
diesem Retrospektiv-Blick geht es dem Künstler auch um die Frage,
welche Bedeutung die durchlebten Lebensstationen der Kindheit (Wedel
- Schönberg in Mecklenburg - Ratzeburg) für ihn hatten. Er verwendet
dafür ein prägnantes maritimes Bild: Wellen, die heranrollen und
beim Ablaufen Grund wegziehen: "Die Sattheit und Schwere der Wedeler
Marschen, die Elbfernen, sind mir fortgeschwemmt, aber die
Schönberger Tage und Nächte sind schon auf festen Erinnerungsboden
gekommen."
Barlach durfte - genau wie seine Brüder - seinen Vater bei
Patientenbesuchen begleiten. In der Autobiographie heißt es dazu: "Um
die Zeit, wo seine Söhne einen Podex nachweisen konnten, der den
Strapazen gewachsen war, ließ mein Vater sie zur Teilnahme an der
Praxis zu, natürlich zur Landpraxis, die jetzt mit Fuhrwerk besorgt
wurde - und da bin ich denn wirklich einmal bis ans Ende der Welt
gekommen. Ich wußte bestimmt, daß das Hinschweifen durchs raumlose
Dunkel am Rande der Wirklichkeit stattfand, und hatte viel, viel
Zeit, über solche Selbstverständlichkeit des Unwahrscheinlichen ohne
Ablenkung nachzudenken, denn gesprochen wurde auf all diesen
Landfuhren fast nie." Es waren Ausflüge ins nächtliche Ungewisse,
ohne Sorge haben zu müssen, verlassen zu werden: der Kutscher war da
(oder in der Nähe), und er wußte, daß der Vater irgendwann vom
Krankenbesuch zurückkehren würde, auch wenn das manchmal lange
dauern konnte, "denn der Dr. Barlach betrieb nach seiner eigenen
Formulierung keine Dampfdoktorei und vergaß an Krankenbetten
frierende Pferde, Kutscher und Kind."
Offenbar war Barlach mit seiner Familie schon einmal in Ratzeburg
gewesen, was einen Eindruck im kleinen Ernst hinterlassen haben muß,
zumindest klingt es in der Rückschau so: als "mein [...] Vater zu
mir sagte: „Wir ziehen nun bald nach Ratzeburg”, da fragte ich
hellhörig zurück: „Ist das da, wo das schöne Wasser war?” - Das war
es."
Blick auf die Ratzeburger
Seen aus
erhöhter Aufnahmeposition. - hom -
Der Vater kann mit seiner Familie ein Haus auf der Insel, in der
Seestraße, beziehen. Im hier gezeigten Foto befindet sich es sich am
äußersten rechten Bildrand. Die Fotografie zeigt zugleich die
damalige Vorliebe für eingeplankte Grundstücke.
Historischer Blick auf die
Seestraße. - km -
Barlach fährt in seiner
Beschreibung der Ratzeburger Jahre fort: "Nach kurzer Zeit zogen wir
aus der Seestraße in das alte Haus mit dem hohen Dach, das ich mein
Vaterhaus nenne. Es lag abseits neben der Stadtkirche und war auf
dem ehemaligen Grabplatz gebaut."
Gartenseite des "Alten
Vaterhauses" - egb -
Um das Jahr 1840 wurde das eingeschossige Traufenhaus mit
Krüppelwalmdach - wohl von dem dänischen Architekten Christian
Hansen - erbaut. Es befindet sich direkt neben der Stadtkirche St.
Petri (heutige Adresse: Barlachplatz 3). Dr. Georg Barlach kaufte es
1877 für 13000 Mark, errichtete eine Arztpraxis und lebte dort mit
seiner Familie.
Foto: Grundriß mit
Gartenplan,
gezeichnet von Hans Barlach
Aus einem alten, von
Ernsts nächstjüngerem Bruder Hans Barlach gezeichneten Plan geht
deutlich hervor, daß zum Haus
ursprünglich ein langgestreckter Garten gehörte. An das überkragende
Dach mit den vier toskanischen Säulen schlossen sich Blumenrabatten
und mehrere Buchsbaumeinfassungen parkähnlich an, doch fehlte auch
der Gemüsegarten nicht. Eine Pfeifenkrautlaube bot Schutz vor
Unbilden der Witterung.
Eine Scheune mit der Wohnung für den Kutscher sowie ein Pferdestall
bildeten den seeseitigen Abschluß des Grundstücks. Die
Barlach-Kinder konnten sich im großen Garten so sicher fühlen wie
in der Kutsche nachts auf dem Land: mit seinen rundherum geführten Planken
bot er optisch und
gedanklich Schutz.
Die damals - nicht nur in Ratzeburg - üblichen Holzplankenzäune
haben für Ernst ausschließlich diesen positiven Charakter, was sich
später, in den für ihn schwierigen Jahren der Selbstfindung, ändern
wird: In seinem Romanfragment "Seespeck" heißt es über diese Zeit:
"Er hatte zu den jungen Leuten gehört, die nicht recht wissen, was
sie mit ihren Kräften machen sollen, und fühlte sich der Zeit
gewissermaßen im Wege stehend, er hatte so sein Pulver zum guten
Teil verschossen und wußte nicht, wohin er eigentlich gezielt hatte.
Jetzt (...) kam es ihm vor, als ginge er an einer langen Planke
entlang und fände nirgends einen Ausgang, die Planke aber hatte er
im Verdacht, daß sie im Kreise liefe und er mit ihr."
Die auf der Nordseite des Gebäudes erkennbare Remise wurde erst in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgetragen. Auf einem
älteren Diapositiv ist sie (in zur Garage umgebauter Form) gut
auszumachen.
Straßenseite des "Alten
Vaterhauses". Im
Hintergrund die ehemalige Stadtkaserne. - km -
Ein Kunstprofessor aus Hamburg bot Anfang des Zwanzigsten
Jahrhunderts eine Malreise ins Lauenburgische für wohlsituierte
Damen an. Eine der Teilnehmerinnen nutzte einen Teil der
Ausflugszeit nach Ratzeburg, um im Garten des 'Vaterhauses' zu
zeichnen. Diese Ansicht aus dem Jahr 1903 mit einem Teil der
parkähnlichen Struktur und dem Rondell (mit Blick nach Norden) gibt
den noblen Charakter des Hauses gut wieder:
Die architektonische Strenge der vier
Säulen korresponiert hier mit einer einheitlichen, noch nicht durch
eine Gaube durchbrochenen Dachfläche.
* * *
Der junge Barlach erkundet die Stadt und
die Umgebung. Wichtig werden ihm besondere Erlebnisse,
die ihn prägen: "Beim Streifen durchs Fuchsholz aber fiel mir die
Binde von den Augen, und ein Wesensteil des Waldes schlüpfte in
einem ahnungslos gekommenen Nu durch die Lichtlöcher zu mir herein,
die erste von ähnlichen Überwältigungen in dieser Zeit
meines neunten bis zwölften Jahres, das Bewußtwerden eines Dinges,
eines Wirklichen ohne Darstellbarkeit - oder wenn ich es hätte sagen
müssen, wie das Zwinkern eines wohlbekannten Auges durch den Spalt
des maigrünen Buchenblätterhimmels."
In der Nähe des Fuchsholzes, in Einhaus, sieht der junge Barlach das in
dieser Form selten anzutreffende
Sühnemal, ein Radkreuz aus gotländischem Kalkstein (Höhe ab
Postament, 1,70m). Es bezeichnet den Ort, an dem der Mönch Ansverus
und 18 seiner Glaubensbrüder am 15. Juli 1066 nahe Einhaus zu Tode
gesteinigt wurden (ca. 800 m nördlich von Ratzeburg, auf der
'Rinsberg' genannten Anhöhe zwischen B 207 und dem Ratzeburger See). Eine
ganz frühe Zeichnung des Künstlers wird seinem Eindruck später optischen Ausdruck
verleihen.
Ernst Barlach: Ansveruskreuz
(um 1888)
Feder und Pinsel über Blei, laviert,
auf gebräunter Pappe (Schult III/N1)
Blattgröße: 170x244 mm.
Ansveruskreuz in Einhaus,
heute Ansicht vom Weg. - egb -
Die oben beschriebene Schutzfunktion des geschlossenen Gartens des
"Vaterhauses" war nötig, denn Barlach schreibt über das Haus: "es
barg Winkel und Verschläge, Böden und Finsterräume, allzu erwünscht
für ein Gemüt voll Ahnen und Grausen ..."
Zu den atmosphärischen Dunkelbereichen kommen seelische: einmal
kamen wir
... "aus der Schule heim und wurden bedeutet, daß unsere Mutter
abwesend sei, auf kurze, vielleicht auf längere Zeit. Wir
antworteten nicht, fragten nicht und taten zueinander, als sei da
alles auf dem sicheren Boden des Notwendigen, und mein Vater, der
wissen mußte, was er über seine Frau verhängt hatte, schwieg
seinerseits in der gleichen Scheu vor Gefühlsäußerungen, die er bei
uns dankbar respektierte, nur, daß er mich von Zeit zu Zeit
aufforderte, einen Weihnachts- oder Geburtstagsbrief zu schreiben."
Barlachs Vater stellt für die
langzeitlich abwesende Doktorsfrau die Doktorstochter Hermine Bark
aus Rhena an, als Haushalts- und Erziehungshilfe, aber sie und die
vier Barlach-Kinder finden überhaupt nicht zueinander: "wir haßten
Herminsch von da, wo sie kam, bis da, wo sie ging."
Blick von Osten auf den
gegenwärtigen
Rest-Garten und die säulenbestandene
Veranda. - hom -
"An einem Abend während
dieser unerwünscht geordneten Zeit mag es gewesen sein, als ich bei
voller Stille des leeren Hauses und verlassenen Gartens in der
Veranda von einem Buch aufsah. Der gelinde Dämmer des Sommerabends
lag überall, und vom Benningsenschen Garten winkten die Wipfel hoher
Tannen über die Scheunendächer. Hier widerfuhr mir abermals eine
Erschütterung, die im Augenblick durch mich ging und ganz sinn- und
gegenstandslos war – und vielleicht doch das heftigste Erleben, das
mir beschieden gewesen ist."
Historischer Blick auf den
Großen
Ratzeburger See von Süden,
rechts der "Barlachblick". - km -
Ein vergleichbares Erlebnis steht dem älteren Künstler auch nach
vielen Jahren deutlich vor Augen: "Ein anderes Mal stand ich an der
Nordecke der Insel am großen See hinter dem Gymnasium bei einem ganz
artig heranfahrenden Winde und erlebte im Augenblick des Zerfließens
einer Welle ein ähnlich übermächtiges Gefaßtwerden."
Barlachs Mutter kann endlich ihre
Familie wiedersehen: "An einem Nachmittage, als wir aus der Schule
kamen, standen die Eltern uns erwartend zusammen da. Meine Mutter
war heimgeholt und erkannte an unserer stummen Verlegenheit und
befangenem Grüßen ihre Söhne. Das Haus hatte seine Ordnung wieder,
die Ehe blieb ungetrübt, das Dasein ließ sich harmonisch an, das
alte Haus wurde mit einigem Aufwand renoviert, und doch, als meine
Mutter eines Tages durch die offene Haustür und alle friedlich
daliegenden Räume hindurch uns vier gemächlich auf dem Rasen des
Gartens balgen sah, zog die Ahnung von dem Unbestand dieses behäbig
gelagerten Seins durch ihr Herz."
Die Familie muß 1884
erleben, daß der Vater an einer Lungenentzündung stirbt: "Am
Dienstag nach Pfingsten wurde ich gerufen und mußte sehen, wie ein
Zoll zu früh eingefordert wurde, ein Zoll, den ein Mann nicht
anerkannte und der grausam eingetrieben ward. Am Nachmittag dieses
sonnigen Junitages gingen wir alle in die Pfeifenkrautlaube und
hörten die Stunde drei vom Kirchturm schlagen. Sonst war alles
totenstill, und die meinem Vater beschiedenen fünfundvierzig Jahre
waren um."
Damit endet die Ratzeburger Zeit abrupt, die Mutter zieht bald
zurück nach Schönberg in Mecklenburg, um sich durch
Zimmervermietungen finanziell über Wasser halten zu können.
Einige Male hat Ernst Barlach während seiner Güstrower Jahre
(1910-1938) Ratzeburg besucht. So berichtet er, im August 1911 mit Mutter und
Sohn Nikolaus dort gewesen zu sein, und schwärmt davon: "Schöne
Tage, es war viel Wind, und die Wälder rauschten denselben Ton wie
vor dreißig Jahren." Noch im November 1937, als er anläßlich eines
Kurzaufenthaltes den Ruheplatz des väterlichen Grabes erwirbt,
schreibt er: "Ratzeburg ist und bleibt schön".
* * *
Am Ende seines Lebens verfügte der Künstler, der seit dem Jahr 1910
im mecklenburgischen Güstrow Wohnung und Atelier besaß, zur letzten
Ruhe in der Familiengrabstätte auf dem Friedhof der Ratzeburger
Vorstadt neben dem Grab des Vaters Dr. Georg Barlach beigesetzt zu werden.
Hölzerne Stele am Grab
Ernst Barlachs,
ehemaliger Zustand. - km -
Vom Museum aus ist es nicht schwierig, die Grabstätte zu finden. Vom
nahegelegenen Markplatz aus führt der Weg direkt nach Osten, über
den 'Königsdamm':
Wegskizze: Zum Barlach-Grab auf dem
Friedhof Seedorfer Straße
von der Insel aus.
Der Klinkerbrand "Singender
Klosterschüler"
auf dem Grab der Familie Barlach. - egb -
* * * Einen Besuch des
Ratzeburger Doms (auf der Nordspitze der ehemaligen Insel) können
Sie verbinden mit einem Gang in den Innenhof des Kreuzgangs. Dort,
an der Ostwand des Klostergebäudes, steht seit 1979 die von Herrn
Nikolaus Barlach († 2001) der Domgemeinde geschenkte Bronze-Plastik
"Der Bettler" von Ernst Barlach.
Bronze: "Bettler auf
Krücken"
im Domkloster-Innenhof. - egb -
Wenn Sie jetzt den Wunsch verspüren, Barlachs Autobiographie "Ein
Selbsterzähltes Leben" sofort zu lesen und Sie im Internet sind,
läßt er sich leicht erfüllen:
* * *
Mitarbeit:
Ernst Günter Burmester, Dr. Horst Otto Müller, Gudrun Pflocksch,
Klaus Tiedemann
Fotonachweise:
- ebg - Ernst Günter Burmester
- hom - Dr. Horst Otto Müller
- km - Kreismuseum Herzogtum Lauenburg
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